Re: BGH-Entscheidung: T-Online darf Verbindungsdaten nicht mehr speichern
> > Etwa die "Meinungsfreiheit" wird inzwischen so intensiv gegen andere
> > Rechte abgewogen, dass davon im Endeffekt nicht mehr viel übrig bleibt,
> > was etwa ein Blogger als sein Recht wahrnehmen könnte.
>
> Die Meinungsfreiheit ist extrem begrenzt, da stimme ich Dir zu.
>
> Aber ich kann Dir nicht folgen, wenn Du sagst, dass das an einem
> "zuviel" an Rechten liegt.
Die anderen Rechte, die dagegen abgewogen werden, wurden im Laufe der
Jahrzehnte von allerlei Gerichten konstruiert und systematisiert, z.B.
unter dem Begriff "Persönlichkeitsrecht", dem auch Grundrechtcharakter
zugebilligt wird, und der ebenfalls ähnlich vage und auslegungsbedürftig
ist wie andere auf diesem Wege konstruierte neue Grundrechte.
> > Das sind die Bürger eines Gemeinswesens, eines Staates.
>
> Ich kann mich nicht erinnern, als Bürger der BRD mit diesem oder einem
> anderen Staat einen Vertrag über die bestehenden Gesetze geschlossen zu
> haben.
Ich kann mich auch nicht erinnern, mit meinem Webseitenleser eine Vereinbarung
über Vertraulichkeit der IP-Adresse geschlossen zu haben.
Gewisse Vereinbarungen, wie z.B. die des Gesellschaftsvertrages, kann man
eben nur als implizit eingegangen betrachten.
> >> Im Zusammenhang mit grenzüberschreitender Freizügigkeit werden aber die
> >> Betroffenen überhaupt nicht gefragt.
> >
> > Sie können durch zwischenstaatliche Vereinbarungen indirekt daran mitwirken.
>
> Was heißt das für Kiddinan Thadchanamoorthy aus Sri Lanka, der seit
> zwölf Jahren in Deutschland (in der Nähe von Münster) lebte? Was heißt
> das für seine Frau Menaka und die drei gemeinsamen, in Deutschland
> geborenen Kinder? (Der Vater wurde im Herbst inhaftiert (Abschiebehaft),
> die Kinder - das jüngste wurde 2005 geboren - wurden von ihren Eltern
> getrennt, die ganze Familie wurde Ende Oktober deportiert.)
>
> Wo genau haben diese Menschen einen "Vertrag" abgeschlossen?
Sri Lanka ist vermutlich eines der vielen Gebiete der Welt, wo die Leute es
nicht geschafft haben, einen Gesellschaftsvertrag zu praktizieren, der dort
erträgliche Lebensverhältnisse schafft.
In Ansätzen gibt es schon jetzt eine Weltgesellschaft, und eine Verpflichtung
zu einer menschenwürdigen Behandlung von Flüchtlingen und Vermeidung
von Härten gehört dazu. Ein Bleiberecht lässt sich daraus nicht ableiten,
auch wenn man vielleicht praktisch oft für "Duldung" optieren wird.
> > Die Mauer wäre vielleicht legitim gewesen, wenn der Zusammenschluss namens
> > "DDR" ein Gemeinswesen freier Bürger gewesen wäre, die beschlossen hätten,
> > sich abkapseln zu wollen.
> Was meinst Du mit "Gemeinwesen freier Bürger"? Die Mauer wäre also okay
> gewesen, wenn 50,01 % der DDR-BürgerInnen für die Mauer gewesen wären?
Den eigenen Bürgern die Ausreise zu verwehren ist nie in Ordnung.
Wenn die DDR-Bürger jedoch einen geschlossenen Raum für das soziale
Experimentieren gebraucht hätten, etwa um das Arbeiterparadies zu
schaffen und vor destabilisierender Masseneinwanderung geknechteter
Proletarier aus dem kapitalistischen Umland zu schützen, wäre dagegen
wenig einzuwenden gewesen.
> Dann wäre es in Ordnung gewesen, die übrigen 49.99% in ihrer
> Freizügigkeit zu beschränken?
Ich glaube wir haben bei der Bleiberecht-Diskussion oft eine andere Situation:
Etwa 20% der Bürger wollen die Freiheit der anderen Bürger, ein Wörtchen
mitzureden, beschneiden und die Mehrheit moralisch stigmatisieren.
Das war viele Jahre so, inzwischen hat sich das Klima etwas gewandelt und
man kann entspannter darüber reden, ohne gleich moralisch stigmatisiert
zu werden.
> Mangelnde Rechte richten nicht weniger Schaden an. Hast Du nicht selbst
> oben das mangelnde Recht auf Meinungsfreiheit von Bloggern beklagt?
Ja, es wird durch konkurrierende Rechte (z.B. Persönlichkeitsrecht)
ausgehebelt.
> Aber: Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist
> grundsätzlich richtig, und gesetzliche Einzelbestimmungen mögen im
> Einzelfall schädlich sein, aber das ändert nichts daran, dass der
> Grundsatz stimmt.
Vielleicht erlaubt dieses Recht ja eine verlässlichere Abgrenzung als
die in meinen Ohren sehr ähnlich klingenden anderen Grundrechte auf
Informationskontrolle im Namen der Persönlichkeit, die in den letzten
Jahrzehnten von Gerichten konstruiert und ausgebaut wurden.
> Nein. Wenn Du Dich ohnehin am Grundsatz der Datensparsamkeit
> orientierst, dann musst Du Gesetze, die die Datensparsamkeit
> konkretisieren, nicht fürchten.
Na ja, ich orientiere mich auch am Urheberrecht, fürchte aber trotzdem
die Rechtsunsicherheit, die durch Kriminalisierung entsteht.
> (Bei den IPRED-Gesetzen zum geistigen Eigentum ist die Sachlage anders.
> Die muss wirklich jeder und jede befürchten, denn irgendwelche geistigen
> Errungenschaften, die andere sich haben sichern lassen, nutzt nun
> wirklich jeder und jede, sei es wissentlich oder unwissentlich.)
Ganz so weit ist IPRED2 in den kursierenden Entwürfen auch nicht gefasst.
Es wird z.B. "wissentliche absichtliche Nutzung in kommerziellem Umfang"
o.ä. zur Voraussetzung gemacht. Aber auch das kann zu absurden Situationen
führen. Z.B. Markenverletzung durch einen Wörterbuchherausgeber, der
einen Eintrag "googeln" aufnimmt und dann irgendwelche Polizisten auf
den Plan ruft.
> > Dann hätten wir nur durch eher zufällige Umstände eine Abmahnwelle
> > vermieden.
> > An der Substanz ändert das nichts.
> > Z.B. bei Vereinen oder Firmen gibt es durchaus eine Menge Leute, die
> > bezeugen
> > können, dass da ein normaler Apache-Webserver läuft.
>
> Auch ein normaler Apache lässt sich trivial so konfigurieren, dass er
> keine personenbezogenen Daten (insbesondere IP-Adressen) speichert.
Davon merkt man nie etwas.
Und ich stimme mit dem Grundsatz nicht überein.
Ich brauche die IP-Adressen. Das HTTP-Protokoll liefert die nicht umsonst und
es gibt jede Menge Situationen, in denen man legitime Verwendungen dafür hat.
Wobei ich schon verstehe, dass es so etwas wie eine missbräuchliche
Sammlung oder Zugänglichmachung dieser Daten geben kann.
Es gibt also irgendwo ein richtiges Maß und einen Punkt, an dem auch das
Rechtssystem eine Funktion hat.
Ich glaue dieses Maß findet man besser, wenn man von impliziten
Vereinbarungen (a la Gesellschaftsvertrag oder Vereinbarung zwischen
Leser und Informationsproduzent) ausgeht, statt von absoluten
Grundrechten. Von letzteren hätte ich gerne ein paar wenige und
dafür klar umrissene.
> > Ich hätte also gerne ein paar weniger und dafür verlässliche Grundrechte,
> > etwa
> > ein System, indem man wissen kann:
> > - Was ich selbst schreibe gehört mir
>
> Bei Tagebüchern o. ä.: ja. Ansonsten finde ich das hochproblematisch. In
> dem Moment, wo Du etwas Geschriebenes veröffentlichst, gehört es m. E.
> der Allgemeinheit.
Einige Rechte daran dem Urheber vorzubehalten, finde ich durchaus sinnvoll,
vor allem in der Anfangszeit.
Die Allgemeinheit sollte vor allem nicht mit unnötigen Kosten für
Ermittlung von Rechteinhabern belastet werden.
> Du willst also, dass z. B. die BLÖD-Zeitung schreiben darf:
Bei Fernsehen und Boulevard-Presse werden Dimensionen erreicht, in denen
andere Regeln gelten, wie etwa auch für Microsoft andere Regeln gelten als
für normale Softwareunternehmen.
Leider ist unser heutiges "Persönlichkeitsrecht" ganz auf Springer und TV
zugeschnitten und wird dann praktisch unverändert auf Bloggersdorf angewendet.
> > - Vertraulichkeit ist im Sinne expliziter oder z.T. impliziter
> > Vereinbarungen,
> > nicht im Sinne von Grundrechten, zu wahren. Wer meine Webseiten sehen
> > will, akzeptiert damit implizit, dass ich seine IP kenne und
> > vertraulich behandle (sofern er selbst keinen Grund zu öffentlichem
> > Streit gibt).
>
> Das finde ich absolut inakzeptabel.
>
> Das Internet tritt nicht nur an die Stelle persönlicher Kontakte (z. B.
> E-Mail als Ersatz für Briefe/Telefonate), sondern es tritt auch an die
> Stelle zahlreicher Medien, bei denen früher "der Sender" nicht wusste,
> wer "der Empfänger" war und welche Informationen genau er abgerufen hat:
>
> - Früher haben Zeitungen/Zeitschriften, Radio- und TV-Sendungen
> politische Nachrichten verbreitet. Nur bei Abonnements war
> nachvollziehbar, wer welche Medien überhaupt bezogen hat. Wer sich für
> welche Nachrichten interessierte, war nicht nachvollziehbar. Das ist bei
> Nachrichten-Webseiten bzw. Online-Ausgaben von Zeitungen anders.
>
> - Früher wurden Adressen und Telefonnummern in dicken Büchern
> nachgeschlagen (bei der Post lagen auch die Telefonbücher anderer Städte
> aus). Wer sich für wen interessiert hat, war nicht nachvollziehbar. Das
> ist mit www.das-oertliche.de u. ä. anders.
>
> - Früher wurden Bahnfahrten im Kursbuch nachgeschlagen, wer wohin reisen
> wollte war nicht nachvollziehbar. Das ist mit www.bahn.de anders.
>
> - Früher wurde die Route für eine Autofahrt im Straßenatlas
> nachgeschlagen, wer wohin fahren wollte war nicht nachvollziehbar. Das
> ist mit www.map24.de anders.
>
> ... Die Aufzählung ließe sich fast beliebig fortsetzen.
>
> Dazu kommt, dass ich beim normalen Umgang mit dem Internet (insbesondere
> mit Suchmaschinen) massenhaft mit InhalteanbieterInnen kommuniziere, die
> ich überhaupt nicht kenne und in die ich schon deshalb kein Vertrauen
> entwickeln kann.
>
> Die Veränderungen von Kommunikation, die die Digitalisierung und das
> Internet mit sich bringen, erfordern m. E. ganz dringend, dass die
> Persönlichkeitsrechte der einzelnen (und dazu gehört die informationelle
> Selbstbestimmung) besonders beachtet werden.
Genau das ist die Argumentation, die ich besonders fürchte: die
Gesetzmäßigkeiten, die sich aus der Beschaffenheit eines früheren Mediums
ergaben, sollen nun von Juristen dem Internet aufoktroyiert werden.
Nach wie vor sehe ich eher den Schutz der Wettbewerbsfreiheit und Vielfalt der
Internet-Angebote als den besten Garanten gegen die Entwicklungen, die du zu
befürchten scheinst.
--
Hartmut Pilch 裴寒牧 ピルヒ・ハルトムート http://a2e.de/phm
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