Re: Datenschutz und "Besenreines Sterben".
On 8 Feb 2005, at 10:55, Bettina Winsemann wrote:
> > ja, und dann die alten Damen im Alter von 80+, die sich innerlich
> > langsam auf das Sterben vorbereiten (die evtl. dazugehoerigen
> > Maenner sind in der Lebensphase, die ich hier meine, haeufig schon
> > verstorben), und anfangen, ihre Bestaende an Archivmaterial
> > aufzuraeumen. Da fliegen dann auch mal ganze Koffer mit Briefen von
> > Vorfahren aus dem 19. Jahrhundert, die die Person ihrerseits mal
> > geerbt hatte, auf den Muell. Auf die (selten gestellte) Frage, warum
> > sie das tue, sagt sie dann vielleicht "Ach, es kommt doch nur darauf
> > an, was man im Herzen traegt". Wenn ich bissig sein will, nenne ich
> > sowas "besenreines Sterben": Ausser den letzten drei
> > Telefonrechnungen und den Kontoauszuegen des letzten halben Jahres
> > finden die Nachfahren nichts schriftliches im Haushalt der
> > Verstorbenen vor.
>
> Was vielfach schlichtweg praktische Gruende hat:
> Mieten werden teurer, Renten werden im Vergleich dazu nicht unbedingt
> hoeher, so dass vielfach umgezogen werden muss (bei jedem Umzug
> fliegen zig Sachen in den Muell). Dazu kommt, dass oftmals die aeltere
> Mutter oder Oma weitgehend allein umziehen muss (Stichwort: fehlendes
> Familiendenken), so dass man schon ueberlegt, ob man xy wirklich
> benoetigt. Dann kommt seitens der aelteren Generation ein "ich will ja
> nicht, dass der Junge mehr Geld als noetig fuer die Raeumung der
> Wohnung ausgeben muss" hinzu. Da gerade Wohnungsaufloesungen
> anstrengend sind und teuer etc, wird eben von vorneherein schon
> "ausgemistet" - leider.
>
> Gerade die Privatarchive sind ja oftmals auch eine Kostenfrage.
> (Kleiner Einschub von mir, sorry)
Alles richtig.
Aber: Die paar Faelle, die ich aus der eigenen Verwandschaft kenne,
zeichnen sich dadurch aus, dass weit mehr als das oekonomisch
notwendige weggeworfen wurde (z.B. 1 Schuhkarton voll Dokumente
haette man theoretisch ja sogar noch mit ins Altersheim nehmen
koennen).
Ausserdem kommt hier die Digitaltechnik ins Spiel:
1 Seite DIN A4 Schreibmaschinentext passt als 200dpi-TIFF-Datei mit
Kompression in ca. 50 KByte. Nehmen wir zur Sicherheit mal 100KByte
pro Seite. Ferner nehmen wir an, ein archivgerechter PC habe eine
Kapazitazitaet von 200 GByte (effektive Nutzkapazitaet) fuer ein
Archiv.
1 Mbyte fasst somit 10 Seiten, 1 Gbyte 10.000 Seiten. 200 Gbyte
fassen also .. aeh, Taschenrechner ... also 2 Mio. Seiten. In einen
Leitz-Ordner passen, sagen wir mal, 500 Blatt. Bei einseitigem Druck
entspricht das also 4000 Leitz-Ordnern.
1 Regalboden eines Ikea-Regals fasst ungefaehr 10 Leitz-Ordner. Bei 5
Böden pro Regal sind das 50 Leitz-Ordner pro Regal. Die 4000 Litz-
Ordner verteilen sich also auf etwa 80 Ikea-Regale.
Jetzt koennte man sich noch auslassen ueber die Lagerhalle, die man
braeuchte, um 80 Ikea-Regale aufzustellen...
Es versteht sich von selbst, dass kaum ein Privatarchiv 2 Mio. Blatt
umfassen wird. Schon bei 10.000 Blatt ist der Zeitaufwand fuer das
Scannen erheblich. Ich will mit meinen Zahlenspielereien nur deutlich
machen, dass jeder handelsuebliche PC heutzutage rein technisch ein
riesiges Archiv fassen koennte, selbst wenn man Papier einscannt
(wenn man direkt elektronische Dokumente as ASCII-Files oder PDF-
Dateien speichert, schrumpft der Speicherplatzbedarf nochmal um ca. 1
Zehnerpotenz). Man mueste sich in der Praxis selbstverstaendlich noch
um eine Backup-Loesung (CD-ROM, DVD-R, Spiegelplatten etc. pp.)
kuemmern.
Natuerlich wird sich Oma Krause vor ihrem Umzug ins Altenheim sich
nicht hinstellen und kistenweise Papier einscannen. Die interessante
Frage waere aber, wass passiert, wenn ein Kind / Enkel / Neffe etc.
auftaucht und das anbietet?
Meine konkrete persoenliche Erfahrung ist, dass selbst ein Angebot
- nur solche Papiere einzuscannen, die vorher "zensuriert" worden
sind, d.h. die familiengeschichtlich kein "brisantes" (was waere
das?) Material enthalten, und
- die Originale nachher wieder herzugeben (keine "Trophaehenjagd") und
- kostenlos CD-ROMS mit eingescannten Dokumenten an die interessierte
Verwandschaft zu verteilen
moeglicherweise nicht ausreicht, um eine tiefsitzende Aversion gegen
den Kern eines solchen Vorhabens zu ueberwinden, selbst wenn das
persoenliche Verhaeltnis zu der aelteren Dame, die auf einigen noch
verbliebenen scanbaren Dokumenten sitzt, eigentlich unbelastet ist.
Gelegentlich provoziert man dann auch in der ganzen Verwandschaft
schwelende Kontroversen wegen der "unmenschlichen" und "kalten"
Vercomputerisierung und Digitalisierung auch noch der Erinnerung.
Ohne Digitalisierung ist Archivierung aber unter heutigen Wohn- und
Mietbedingungen fuer die grosse Mehrheit in der Tat unmoeglich.
Mit Digitalisierung soll das Archiv also nicht sein, ohne kann es
unbestritten nicht sein, also fliegt alles in den Muell.
Und die IT-erfahrenen Thirty-somethings, die sogar jede e-Mail
einzeln haendisch loeschen, muessten ja auch nicht so handeln. Sie
koennten sich - rein oekonomisch gesehen - ohne Weiteres ein
digitales Privatarchiv leisten.
Der langen Rede kurzer Sinn - ich moechte mit diesen Ausfuehrungen
nur verdeutlichen, dass viele ZeitgenossInnen ein Privatrachiv nicht
wollen, nicht aus oekonomischen Gruenden, sondern aus tieferen
Gefuehlen heraus, die ich derzeit nicht verstehe, ueber die ich aber
gerne naeheres erfahren moechte.
Falls jemand Literatur darueber hat, waere ich fuer entsprechende
Pointer dankbar.
Angefangen haben diese Gedanken uebrigens mit der Lektuere von Marion
Graefin von Doenhoffs Memoiren "Namen die keiner mehr nennt". Darin
beschreibt sie, wie sie als Studentin zu ihrem elterlichen Gut
zurueckkehrt, um dort - auch zum Schrecken Ihrer Eltern (!) - in
einem Nebengebaeude des Gutes eingelagerte Dokumente zur
Wirtschaftsgechichte des Gutes zwecks Ausarbeitung einer Dissertation
wissenschaftlich auszuwerten. 700 Jahre Geschichte stehen ihr offen.
Hier sieht man die unmittelbare oekonomische Komponente der
Archivierung: Fuer - im wahrsten Sinne - "begueterte" Adelige war es
ganz selbstverstaendlich und auch praktisch moeglich, 700 Jahre lang
Dokumente einfach irgendwo abzulegen, statt sie zu vernichten. Warum
haben sie das damals gemacht? Was haben sie sich davon versprochen?
Die Digitalisierung und der universell programmierbare PC erlauben es
erstmals in der Geschichte auch durchschnittlich bemittelten
Buergern, nahezu unbegrenzt Zeugnisse aller Art zu archivieren.
(<sarkasmus>Jedenfalls solange es die Umstaende erlauben, dass man
einen 250GB-PC ohne Zwangs-DRMS billig kaufen kann, bei dem man noch
auf die Platte kopien kann, was man will.</sarkasmus>). Aber was
macht der durchschnittliche Buerger? Er betreibt ein "outsourcing"
aller Erinnerung an fremdbestimmte Externe (Staat, Wirtschaft), die
nachher mehr ueber ihn wissen als er selbst. Und er kann noch nicht
einmal in diese "externen Archive" Einblick nehmen, selbst wenn er
das (spaeter mal) wollte.
Ich meine, dass man hier noch mal nachdenken sollte, was da
heute eigentlich los ist.
---AHH
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