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Datenschutz und "Besenreines Sterben".



Mann sollte zum Thema Datenschutz m.E. mal versuchen, ein etwas 
groesseres Bild zu gewinnen.

Der Grundgedanke des Datenschutzes ist (war?) eine Anwendung des 
Satzes "Divide et impera", "Teile und Herrsche". Der einzelne Buerger 
sollte nicht verpflichtet sein, einzelnen staatlichen Stellen 
(Behoerden), einzelnen Wirtschaftsunternehmen (z.B. Handel) und 
sonsitigen Privatpersonen mehr Daten ueber sich preiszugeben, als 
fuer die Erfuellung einer bestimmten Aufgabe unbeding notwendig ist 
(Zweckbindung der Daten, Datensparsamkeit, "need to know"). 
Insbesondere sollte durch Datenschutz auch verhindert werden, dass 
die legitimen Datenempfaenger von Teildatenbestaenden sich hinter dem 
Ruecken des Buergers konspirativ zusammentun und vom Buerger 
separierte Daten hinter dessen Ruecken zu einem "Profil"  
zusammenfuehren.

1. Das Volkszaehlungsurteil hat den Staat rigoros und mit 
Verfassungsrang an dieses Prinzip gebunden. Allerdings hat es ein 
Hintertuerchen offengelassen: Die Einwilligung des Buergers kann 
jederzeit und ueberall durch eine gesetzliche Datensammelanordnung 
ersetzt werden. Im Ergebnis war das Volkszaehlungsurteil ein 
Danaergeschenk: Statt weniger Daten zu sammeln und die Datenbestaende 
einzelner Behoerden weniger oft zu Profilen zusammenzufuehren, achtet 
der Staat jetzt bloss noch darauf, fuer alle diese Aktionen sich eine 
gesetzliche Grundlage zu besorgen. Unter den heutigen politischen 
Rahmenbedingungen klappt sowas reibungslos. Falls Otto S. heute 
beschliesst, dass es besser waere, eine zentrale DNS-Datei 
aufzumachen, in die ausnahmslos DND-Daten aller Saeuglinge 
einzuspeichern sind, wird schon morgen frueh das dafuer erforderliche 
Bundesgesetz verabschiedet werden. Das Volkszaehlungsurteil hat 
insoweit nicht zur Datensparsamkeit beigetragen; es hat de facto nur 
ein Transparenzgebot verankert (man kann im Gesetzbuch jederzeit 
nachlesen, was der Staat alles speichern und zusammenfuehren darf).

2. Die Wirtschaft hat das Prinzip des Datenschutzes nie 
verinnerlicht, weil ein Umgehen oder Brechen diesbeueglicher 
Restriktionen stets einen Wettbewerbsvorteil verspricht; sie setzt 
hauptsaechlich darauf, dass der Buerger freiwillig vertraglich in die 
Datenerfassung und -Zusammenfuehrung einwilligt. Um einen gewissen 
Druck in diese Richtung ausueben zu koennen, erhoeht z.B. der Handel 
die Endpreise um ein paar Prozent, um von dem einbehaltenen Geld 
einen Teil an diejenigen Kunden auszuschuetten, die bereit sind, auf 
die Anonymitaet ihres Konsumverhaltens zu verzichten (Rabattkarten 
wie "Happy Digits", "Payback"). Andere kreative Loesungen bestehen 
darin, in Laender auszuweichen, wo Datenschuzuverpflichtungen 
praktisch nicht durchsetzbar sind. Oder man aggregiert Daten ein 
bisschen, etwa auf Mietshaus- oder Hauserblockebene, so dass man 
behaupten kann, diese seinen nun nicht mehr "personenbezogen", um 
diese schwach aggregierten Daten dann doch wie personenbezogene Daten 
zu verwenden (Bonitaets-Scoring, wenn die Nachbarn zuviel Schulden 
haben, bekommt man eben nichts mehr auf Rechnung). 

3. Das erstaunlichste sind aber die einzelnen Privatpersonen 
("Buerger") selbst. Ich weiss nicht, ob es ueberhaupt 
(wissenschaftliche) Literatur darueber gibt, was die Privatpersonen 
uber sich selbst wissen. Ich meine damit das Thema "Privatarchiv".
Da gibt es z.B. die gutverdienenden Singles im Alter von Thirty-
something, die beschlossen haben, das Geld nicht in die Wohnung, 
sondern in Reisen und Lifestlyle zu stecken. In dem 
Einzimmerappartement, das sie bewohnen, ist der verfuegbare Raum auf 
das aeusserste oekonomisiert; kein Stueck Papier hat eine 
Existenzberechtigung ueber praktische und gesetzliche Zwaenge hinaus. 
In dieser Altersschicht gibt es auch erstaunlich viele "E-Mail-
Sofortloescher", die auch jede erhaltene e-Mail, die _nicht_ Spam 
ist, sofort nach der Kenntnisnahme bzw. Beantwortung loeschen, egal 
ob der Rechner noch 2GB oder 200GB freie Plattenkapazitaet hat. Ach 
ja, und dann die alten Damen im Alter von 80+, die sich innerlich 
langsam auf das Sterben vorbereiten (die evtl. dazugehoerigen Maenner 
sind in der Lebensphase, die ich hier meine, haeufig schon 
verstorben), und anfangen, ihre Bestaende an Archivmaterial 
aufzuraeumen. Da fliegen dann auch mal ganze Koffer mit Briefen von 
Vorfahren aus dem 19. Jahrhundert, die die Person ihrerseits mal 
geerbt hatte, auf den Muell. Auf die (selten gestellte) Frage, warum 
sie das tue, sagt sie dann vielleicht "Ach, es kommt doch nur darauf 
an, was man im Herzen traegt". Wenn ich bissig sein will, nenne ich 
sowas "besenreines Sterben": Ausser den letzten drei 
Telefonrechnungen und den Kontoauszuegen des letzten halben Jahres 
finden die Nachfahren nichts schriftliches im Haushalt der 
Verstorbenen vor. Und die Medienindustrie fuerchtet sich vor 
digitalen Archiven von digitalen Vervielfaeltigungsstuecken, weil man 
die ja vielleicht kopieren und weiterverbreiten koennte.

Die grosse Mehrheit der Bevoelkerung wird, wenn das so weitergeht, 
bald weder uber ein Gegestueck zur Hausbibliothek verfuegen (weil die 
Medienindustrie mittels DRMS private digitale Medienarchive zu 
torpedieren sucht) noch irgenwelche Aufzeichnungen darueber haben, 
was sie selbst oder ihre Vorfahren mal gedacht und getan haben. 

Waehrend der Staat und die Wirtschaft immer mehr ueber den Einzelnen 
wissen und mehr und mehr Profile erstellen, fallen die Buerger in das 
vorschriftliche Zeitalter einer reinen "oral history" zurueck. Weiter 
als bis zu groben Aussagen ueber die eigenen Grosseltern reicht das 
Erinnerungsvermoegen nicht zurueck, wenn ueberhaupt.

Demgegenueber zeichnet sich eine schmale Schicht von IT-Powerusern 
ab, die z.B. seit ihren Studententagen jeden Gedankenpfurz digital 
archiviert und im Laufe der Jahrzehnte ein Digitalarchiv aufgebaut 
haben, das z.B. auch politisch operationalisierbar ist 
(beispielsweise private Kopien von Diskussionen in Mailinglisten und 
anderen Foren, die lange Jahre oder Jahrzehnte abdecken). Ich warte 
nur noch darauf, dass irgendwelche irregeleiteten Datenschuetzer 
ankommen und sagen, man muesse den Aufbau von privaten digitalen 
Archiven reglementieren, damit nicht Einzelne zuviel Nutzen aus ihren 
privaten Datensammlungen ziehen koennen.    

Der Datenschutz herkoemmlicher Definition ist derzeit politisch 
praktisch am Ende, da sich der Staat durch Gesetzgebung beliebig 
darueber hinwegsetzen kann und dies von der Mehrheit nicht nur 
geduldet, sondern verlangt wird. Und die Wirtschaft hat sich ein 
System aus vertraglicher Zustimmung und "kleiner Mogelei" geschaffen, 
mit dem sie gut leben kann. Der Kunde gibt gerne seine Anonymitaet 
fuer ein paar Euro Rabatt her. Aber ueber sich selbst weiss der 
Buerger fast nichts ausser dem, was er noch im eigenen Gedaechtnis 
behaelt (und das ist, wie wir alle wissen, oft ziemlich subjektiv 
eingefaebt). Spaetestens die Kinder oder Kindeskinder sind von jeder 
Objektivitaet durch befragbare Zeugnisse ("Dokumente") abgeschnitten. 
Welche politischen Langzeit-Folgen dieser kollektive 
Gedaechtnisverlust haben wird, ist noch gar nicht absehbar.   

Bevor man wieder ueber Datenschutz redet, muesste man eigentlich 
erstmal ueber diesen gesamten Wissenshaushalt personenbezogener Daten 
nachdenken, vor allem ueber die "Sucht" der Buerger nach Vergessen 
durch strukturelles Vermeiden des Entstehens von Privatarchiven im 
krassen Gegensatz zu der Externalisierung des diesbezueglichen 
Gedaechtnisses an Staat und Wirtschaft. Dann kann man vielleicht 
wieder neu danach sehen, was Datenfluesse bedeuten und wann sie ggfs. 
welche Legitimitaet haben.   

--AHH


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