Re: Hohmann und Internet
Am 12.11.2003 00:13 schrieb Peter Ross:
On Tue, 11 Nov 2003, Matthias Hannich wrote:
Ist es denn nicht so, dass
antisemitistisches Gedankengut hier fruchtbaren Boden findet, nein
vermutlich sogar gut gedeiht und seit Jahrzehnten gehegt und gepflegt
wird?
Nein, das stimmt nicht.
Fuer die Mehrzahl der Deutschen spielen Gedanken, Juden betreffend, im
Alltag kaum eine Rolle.
Was im Prinzip aber auch gar nichts heißt, oder?
Die meisten wissen doch nicht mal um ihre Vorurteile bescheid und da 
kommt so ein Hohmann doch wie gerufen und danach kann man ja immernoch 
rufen "Scheiß Staat, von wegen Meinungsfreiheit. Und immer wenn man was 
gegen die sagt, ist man gleich Antisemit!!".
Eher koennte es Dir passieren, dass sich jemand ueber "den Tuerken"
beschwert.
Das macht nur einen kleinen Unterschied. Das "Bild" des Juden ist imo in 
den Köpfen der meisten Leute schon so eingraviert, dass es kaum noch 
diskutiert werden muss oder kann.
Im Alltag wird sicher wenig über "Juden" geredet, außer wenn es mal 
wieder um "Israel" geht (was anscheinend oftmals kein Unterschied ist). 
Der Türke ist dann wie Du richtig sagtest das Beispiel, das niemand mag 
und niemand will, der soll erstmal Deutsch lernen.
Ich denke dennoch, dass hier im Land grundsätzlich eins verwechselt 
wird: Israelkritik funktioniert auch ohne Antisemitismus. Die Rede von 
Hohmann ist tatsächlich zweitrangig, umso schlimmer dass überhaupt 
irgendjemand sich für diesen Kerl ausspricht. Es ging ja nicht mal um 
Israel.
Mit Sicherheit hat er einen Imageaufschwung zu verbuchen. ("Der Mann 
spricht mir aus der Seele, denn der Jude war ja schon immer...")
Die zweistellige Prozentzahl tuerkischstaemmiger Buerger in den
westdeutschen Grossstaedten ist offensichtlich und Teil des Alltags eines
jeden Buergers, der hier wohnt. Die Anzahl der Juden, zusammen mit der
Tatsache, dass sie zumeist halt im Alltag gar nicht auffallen, ist dagegen
unbedeutend. Ein juedisscher Rabbi ist ein Kuriosum, welches einem, wenn
man nicht direkt neben einer Synagoge wohnt, einmal im Jahr begegnet.
Das ändert imo nichts daran, dass antisemitisches Denken in den meisten 
"Deutschen" zu schlummern scheint, vielleicht bin ich aber auch 
diesbzgl. nur zu engstirnig.
Einstellungen werden in der Regel im Zusammentreffen mit Vertretern
anderer Kulturen gepraegt.
Hmm, ich nehm mich mal zusammen. :)
Die Frage der Kultur ist doch schon wieder eine andere, ein jüdisch 
Glaubender gehört nicht prinzipiell einer "anderen Kultur" an. Und der 
Rabbi ist nicht zwangsweise "Vertreter" dieses Glaubens, sondern Mitglied.
Na gut, das war jetzt vielleicht wirklich etwas übertrieben. Auf die 
Kulturen bezogen bin ich eh nicht so für ein "Begucken und gegenseitiges 
Staunen" sondern eher für großen Mischmasch(nein, nicht multikulti).
Meine Nichte, aufgewachsen auf einem
mecklenburgischen Dorf, war als Jugendliche fuer antituerkische Parolen
sehr empfaenglich. Sie hatte tuerkische Jugendliche gelegentlich inm
Diskos kennengelernt und fand sie unertraeglich. Sie wuerde von ihnen
"penetrant machomaessig angemacht".
Hmm. Das ist natürlich nicht so toll für Deine Nichte. Es würde viel zu 
weit führen, dieses Problem wirklich zu erläutern, ich denke vieles ist 
Dir bekannt. Die meisten "Argumente" oder 
antitürkische/fremdenfeindliche Parolen sind so und so auf Unfug 
aufgebaut, und zwar auf faktischem, nicht menschlichem.
Das Thema Judentum kommt in der Regel in zwei Zusammenhaengen vor:
Holocaust und Israel.
Dass im Zusammenhang mit dem Holocaust antisemitisches Gedankengut
gepflegt wird, kann man nicht wirklich behaupten.
Hmm. Gut, man kann jetzt nicht direkt behaupten, dass Aussagen wie "Ja, 
es war wirklich schlimm was damals passiert ist. Aber der Russe war auch 
nicht besser." antisemitisch sind. Schnell vermischt sich das aber mit 
"Die Juden heute sind ja auch nicht besser." oder "Man darf nicht ewig 
auf uns rumhacken.", vielleicht auch gepaart mit "Er war doch selbst 
Schuld, er passt einfach nicht hierher." oder so.
Mit Sicherheit ist man betroffen. Dass dabei aber einige irgendwas 
falsch verstanden zu haben scheinen liegt auch auf der Hand.
Die Beschaeftigung mit israelischer Politik ist da schon "heisser".
Israelis bis hin zu hohen Politikern werfen jedem, der ihre Politik
ktitisiert, pauschal Antisemitismus vor.
Soso. Ich höre ab und zu, dass in den höheren Rängen die Politiker sowas 
abwerfen, ob zu recht oder nicht sei dahingestellt. (Bestimmte 
israelische Politiker sind so und so merkbefreit.)
Daraus zu schließen, dass Israelis das grundsätzlich so machen, ist 
schon wieder anzuzweifeln. Das setzt erstmal voraus, dass alle Israelis 
Juden wären. Die wenigsten dieser werfen das aber vor, die meisten 
wollen das, was ich auch wöllte: Endlich im verdammten Frieden zusammen 
mit den Nachbarn leben.
Ich bin von der israelischen Politik auch nicht sonderlich begeistert,
wehre mich aber gegen einen Vorwurf des Antisemitismus.
Dieser hängt ganz von Deiner Argumentation ab. Ich denke, im 
Zweifelsfall muss man einfach so etwas ansprechen um auf bestimmte 
Ansichten aufmerksam zu machen, die bei näherem Hinsehen vielleicht gar 
nicht so gemeint waren oder relativ gefährlich sind, wenn man sie 
unbeurteilt im Raum stehen lässt.
Wie ich schon andeutete steckt häufig nicht Böswilligkeit dahinter, 
ebenso bei mir. Nur dann erwarte ich von den Menschen, dass sie 
wenigstens versuchen es zu verstehen. Meist hört man dann aber sowas wie 
"Jeder der Israel kritisiert wird als Antisemit beschimpft.".
Dabei wird er moeglicherweise auch Einblicke in die palaestinensische
Alltagswelt bekommen haben. Hier gibt es inzwischen ganze Generationen,
die mit israelischen Soldaten, Ausgangssperren, Besetzungen,
Passkontrollen, Reisebeschraenkungen, der taeglichen Angst vor irgendwo
aufflammenden Schusswechseln, Bulldozern, Razzien etc. aufgewachsen sind,
die fuer uns kaum vorstellbar sind.
Ja richtig, die palästinensische Bevölkerung möchte schließlich auch wie 
die meisten normalen Menschen in Frieden leben. Nur das 
Henne-Ei-Problem, ergo wer für diesen Krieg verantwortlich ist und warum 
niemand nachgeben will bleibt nach wie vor.
Ich halte es im übrigen für interessant, dass man plötzlich die Taten 
von Terroristen rechtfertigt/relativiert(/gutheißt). Vertreter davon 
sind in allen "Schichten" hierzulande zu finden.
Imo recht selten diese Erscheinung.
Der palaestinensiche Selbstmordattentaeter in Haifa betritt in einer
Freitagabenddisko unschuldiger israelischer Jugendlicher eine
Lebenswelt, die ihm nur unwirklich erscheinen kann, wenn er an sein
Zuhause denkt. Und es sind die gleichen jungen Leute, die ihren Wehrdienst
ableisten und so in den Strassen seiner Heimat taeglich praesent sind.
"Der arme palästinensische Junge, er sah einfach rot wie der israelische 
Soldat kleine Kinder erschoss. Er verstand es nicht, warum niemand auf 
die Morde mit Frieden reagiert, er versteht die Welt nicht mehr, warum 
wohl Allah sich gegen ihn gewandt hat?" (Anm.: Man sollte sich auch mal 
über die tatsächlichen religiösen Strukturen und wer in Palästina denn 
wirklich gegen wen kämpft ansehen, bevor man lauthals "Besetzer gegen 
Freiheitskämpfer" ruft.)
"Steine gegen Panzer, lustige Bomben gegen kleine Kinder, Frauen, 
schuldige Israelis. Versteht doch bitte diesen Krieg."
Wenn kurdische Mitmenschen an ihr Zuhause denken, sind sie sicher auch 
ganz froh. Vor allem wenn sie dann sehen, was die EU so denkt, wie die 
deutsche Rechtspraxis gegenüber (kurdischen) Flüchtlingen ist und wieso 
sie eigentlich nicht als Freiheitskämpfer gelten und überhaupt, warum es 
niemanden interessiert.
Die Labelung solcher Gedanken mit Antisemitismus gleichzusetzen, ist ein
Reflex, den ich fuer mich nicht gelten lassen moechte. Denkverbote
erschweren die Loesungssuche in dem emotional aufgeladenen
Nahost-Konflikt, der weltweite Auswirkungen hat, erheblich.
Kann ich verstehen und war auch nicht meine Absicht. Wie gesagt, ich bin 
vermutlich in der Diskussion einfach sehr sensibel. Zu oft merke ich, 
dass aus Relativierungen ganz schnell das Fundament für Rassismus 
entsteht. Bei Thema (Anti)Semitismus geht das ganze wesentlich 
schneller, andere Themen rücken aber fortwährend nach.
Es ist aber gerade wegen der emotional aufgeladenen Atmosphaere durchaus
nicht unklug, als Deutscher nicht in der vordersten Front an der
Konfliktloesung beteiligt zu sein. Es mag Joschka Fischer ein ernstes
Anliegen sein, ich bin mir aber nicht sicher, ob meine Landleute die
geeignetsten Friedensstifter in einem Konflikt sind, in den ein juedischer
Stast involviert ist.
Über das "jüdischer Staat" können wir ja ein anderes mal weiterstreiten. ;)
Das es dem Herrn Fischer so wichtig ist, will ich fast bezweifeln. Es 
,acht sich doch gut, so ein Friedensstifter-Image, auch wenn man im 
Grunde nichts stiftet außer über die EU Gelder für Arafat/Konsorten, 
damit dort mal "Lebensmittel" hinkommen. Nein, auch über das Faktum 
möchte ich nicht streiten, nur über die Art und Weise und den Zweck, den 
das Geld dort unten tatsächlich erfüllt(e?).
Andererseits weiß ich auch gar nicht so genau, in wieweit man Fischer 
jetzt für EU-Sachen verantwortlich machen sollte, ein gewisses Vetorecht 
hätte seine (die deutsche) Stimme allerdings mit Sicherheit auch.
Ein Blauhelm von der Bundeswehr ist hier sicher an
einem der ungeeignetsten Orte.
Stimmt, auf gewissen Deponien sind diese Dinge besser aufgehoben. *SCNR*
--
Freundliche Grüße,          ###  http://www.stop1984.com
Matthias Hannich            ###  nulli@xxxxxxxxxxxx
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