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Re: [FYI] Es wird Ernst mit den Jugendschutzbestimmungen im Internet, ICRA als Pilotprojekt fuer "Filtering" nach dem JMStV?



On Saturday 25 October 2003 17:08, Joerg-Olaf Schaefers wrote:
> Saturday, October 25, 2003, 3:28:15 PM, Kristian Köhntopp wrote:
> > On Friday 24 October 2003 14:35, Alvar Freude wrote:
> >> - ICRA verabschiedet sich eindeutig von Selbstregulierung und Co,
> >> sprich: am Anfang wurde vehemennt abgelehnt, dass eine staatliche
> >> Instanz da Auflagen macht und mitbestimmt, nun wird das akzeptiert
> >> Inkl. Rating-Pflicht etc.
>
> Dieses euphemistisch "Ko-Regulierung" (also gut gemeinte Filterung
> wegen gesellschaftlicher Verantwortung durch Provider & Anbieter +
> staatlicher Eingriff, wenn diese nicht ausreichend ist) genannte
> Prinzip wird eigentlich seit Jahren von Bertelsmann propagiert
> (Schrieb ich hier schon oefter, oder?).

Selbst-Rating funktioniert nicht, aus vielen Gründen.

Der am leichtesten verständliche Grund ist vielleicht, daß man hier den 
falschen Leuten Arbeit aufbürdet. Damit Selbst-Rating funktioniert, muß man 
Inhalte ohne Rating als "Frei ab 18" ansehen, so wie das auch bei Filmen 
gehandhabt wird. Damit ist das ganze Internet minus ein Epsilon erst einmal 
unzugänglich.

Jetzt bürdet man allen Anbietern jugendfreier Inhalte Arbeit auf, damit ihre 
Inhalte wieder für Jugendliche und Kinder zugänglich werden. Mit dem 
rechtlichen Risiko auf der Seite des Anbieters, falls sie sich beim Rating 
vertun und sich selber zu niedrig einstufen.

Ein anderer, ebenso leicht verständlicher Grund ist, daß die ganze 
Ratingdiskussion derzeit ausschließlich auf dem Web arbeitet. Auf dem 
öffentlich zugänglichen, unverschlüsselten Web, um genau zu sein.

Das ist der Stand von vor fünf Jahren. Das Web wird immer noch verwendet, um 
ein paar kleinere HTML-Dateien und die da drin enthaltenen Bilder durch die 
Gegend zu schubsen, aber Content verschoben wird

a) über den Esel und seine Freunde und
b) über nntps

(Zu b: Ein ehemaliger Arbeitskollege von mir arbeitet derzeit bei einem 
amerikanischen kommerziellen USENET-Serverbetreiber. Ich weiß jetzt (auch 
ohne gefragt zu haben), daß man mit USENET News ein Gigabit-Link saturiert 
bekommt, daß man für 365 Tage Haltezeit von Textgruppen ein 2 TB Array 
bereitstellt, und für 30 Tage Haltezeit von Binärgruppen etwa 20+ TB Platz 
ankabelt, daß es spezielle Binär-Decodier-Sortier-Newsreader gibt, die mehr 
Ähnlichkeit mit Filemanagern als mit Newsreadern haben und daß INN auch mit 
News in Dosen nicht wirklich geeignet ist, solche Datenmengen zu verwursten.)

> [..] Das ICRA-Argument zur Frage, warum man sich denn seine Website
> selbst klasifizieren sollte, zeigt aber auch noch einen anderen
> Zensurmechanismus. "Wenn Sie eine kommerzielle Seite betreiben, die
> kein oder wenig angreifbares Material enthält, wollen sie doch sicher
> nicht, dass Ihre Seite 'by default' geblockt wird." Im Klartext: Wenn
> ICRA sich durchsetzt, bleibt den Anbietern nichts anderes übrig, als
> sich selbst nach dem ICRA-System einzustufen, wollen sie nicht Gefahr
> laufen, von vornherein ausgefiltert zu werden.

Für keinen nichtkommerziellen Anbieter und für keinen Anbieter dynamischer 
Inhalte ist es attraktiv oder technisch möglich, ein Rating unterhalb von 
"Frei ab 18" anzustreben. Siehe meine Argumentation (Unter 18 -> Mir egal) 
und die von Alvar (Will ich zwar, kann ich aber nicht leisten).

> "Wenn eine Seite 'null-null-null'-bewertet ist, aber 120 Mal das Wort
> Sex vorkommt, kann man checken, was es für eine Seite ist."

Das ist nicht das Problem, das Selfrating hat (haben wird). Das Problem werden 
4444-Seiten sein, auf denen keinerlei anstößiges Zeug vorkommt bzw Seiten, 
die gar kein Rating haben (wollen). Denn diese Seiten verhindern derzeit die 
großflächige Einführung und Installation von Blockern. Solange man Overrating 
nicht zu genau dem gleichen Vergehen macht wie Underrating wird sich hier nix 
bewegen.


Selbsteinstufung ist nur eine Untersetzung. Fremdeinstufung (Rating durch 
Dritte) ist nicht machbar, siehe dazu die verschiedenen Filterprogramme für 
Internet-Inhalte, die nicht auf Keywords basieren. Keiner dieser Filter 
funktioniert in einem Ausmaß, daß man ihn in der praktischen Arbeit einsetzen 
könnte (Kinder und Jugendliche würden ein solches Filterprogramm benutzen 
WOLLEN, von sich aus, wenn es denn zielgenau filtern würde. Es würde nämlich 
auch jede Menge Spam, Werbemüll und Suchmaschinenverschmutzung fernhalten. 
Ein Umgehungsversuch ist in mehr als 90% der Fälle nicht das Resultat des 
Wunsches, verbotene Inhalte zu erlangen, sondern der Versuch, einen als 
defekt empfundenen Filter unbürokratisch zu umgehen).

Fremdeinstufung reduziert dieses Problem um etwa den Faktor 10 bis 100 - jetzt 
muß nicht mehr eine dritte Instanz (Aufsicht) alle Inhalte einstufen, sondern 
sie muß nur noch die Qualität der Selbsteinstufung überwachen. Die Frage ist 
eigentlich nur, ob eine Untersetzung von 10-100 das Problem ausreichend klein 
macht, sodaß man es in den Griff bekommt. Wer das Internet gesehen hat, und 
meine o.a. Argumentation zum Thema Motivation verstanden hat, kann sich den 
Rest selber aufsummieren.

Ausführliche Durchdeklination des Sachverhalts immer noch unter 

        http://www.koehntopp.de/kris/artikel/rating_does_not_work/

Der Text ist immer noch aktuell. Er wirft jede Menge Fragen auf, zu denen ich 
noch von niemandem eine befriedigende Antwort bekommen habe.

> D.h. man will nur die grossen und kommerziellen (Broadcast-)Seiten,
> der Rest soll schauen wo er bleibt und/oder landet halt mit Pech im
> (Content-)Sieb.

Dort auch "Third Party Rating cannot be based on URLs" ebenda und die 
Anmerkungen von Alvar re die Inhalte des Assoziationsblaster. 

Welches Rating hat http://www.cnn.com? Welches Rating hat http://
news.google.de? Warum hat keine von diesen Seiten ein Rating (Mein Artikel 
ist von 1999, das sind vier Jahre. Inzwischen sollten diese Sites doch ein 
Rating haben, oder nicht?)

>  Stufe 3) Damit 2 "sicher" wird, braucht man ein Chipkarte, damit
>           $Provider "Frei ab 18"-Content freigibt [1]. Utopie? Nein,
>           schlichte Ansage der KJM fuer Fickelcontent, ganz aktuell.
>
>           Auf genau diese Art sollen sich Kunden demnaechst autori-
>           sieren. Wenn auch zunaechst gegenueber dem AVS der ein-
>           zelnen Zielserver.
>
>           "Unzulaessige Inhalte" werden selbstverstaendlich gleich
>           geblockt.
>
>  Stufe 4) wie 3, nur vorgeschrieben.

TLS. Filter beim Provider greifen nicht.

> Sender und Empfaenger muessen sich allerdings auch erst einmal finden.

Ja. Und an dieser Stelle überlegt sich der Medienregulator vielleicht, ob er 
Druck auf die Suchmaschinen ausüben will, BEVOR er USENET und den Esel im 
Griff hat. Andernsfalls erhöht er den Migrationsdruck nur noch weiter und der 
Markt entgleitet ihm wieder.

Der Punkt ist doch, daß in einem Szenario wie 3 oder 4 die Erfindung einer 
Kreuzung von freenet, mldonkey und mozilla zwangsläufig ist. Also nicht ob, 
sondern nur "wie schnell". Ich wage mal zu behaupten, daß hier gleich jemand 
ein Followup mit einer Freshmeat-URL und dem Text "Gibt's schon" an meinen 
Text dranklebt. Dann ist die Frage nur noch "Gibt's schon eine 
Windows-Version davon?" und "Gibt's schon einen Grund, so etwas 
einzusetzen?".

> Ich fand Hoffs Argument mit den "1000 wichtigsten" Seiten recht inte-
> ressant. Und den Rest, nun, den kann man mehr oder weniger schlecht
> automatisch bewerten oder bewerten lassen. Kollateralschaeden? Muss
> man mit leben ..

Ich auch, sie gibt nämlich eine bestimmte Geisteshaltung wieder. Gehe einmal 
die Seiten durch, die Du und Deine Bekannten so im Laufe eines Tages 
besuchen, oder noch besser: Drücke im Konqueror mal F9 (Seitenleiste 
anzeigen) und klicke dann auf den Uhrentab (History anzeigen) und gehe die 
Liste einmal durch. Wie viele Top1000 sind da drunter? Und was ist mit den 
Nicht-Top1000 - wie wichtig erscheinen die Dir subjektiv?

In den Top1000-Sites bekommst Du doch die Informationen, die Du aus dem 
Fernsehen oder dem Radio auch bekommen hättest. Die wichtigen Sachen, die 
Sachen, die Dich zu Dir selber machen und die Dich characterisieren und die 
das Internet für Dich zu DEINEM Netz machen. Das sind die anderen Sites.

Kristian

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