Re: Läss t sich das patentieren?
On 19 Sep 2003, at 10:05, Rigo Wenning wrote:
> Du übersiehst leider, dass es hier ein strukturelles Problem gibt. Ein
> Patentamt skaliert vielleicht mit grossindustriellen Erfindungen bei
> der grosse Apparate gebaut werden müssen. Ein Patentamt skaliert
> vielleicht auch noch bei chemischen Zusammensetzungen die ein Produkt
> mit erstrebenswerten Eigenschaften ergeben.
Rigo,
die Frage des Skalierens von Patentaemtern ist sicher
hochinteressant. Man muss aber erstmal klaeren, was da wo skalieren
soll.
a) Die Anzahl der zu pruefenden Patentantraege:
Die Nachfrage nach Patenten hat sich in der Zeit von Anfang der
90er Jahre bis heute etwa verdreifacht, vielleicht auch
vervierfacht. Das ist weniger als eine Zehnerpotenz. Das macht
ggfs. Kopfschmerzen beim Recruitment von qualifizierten Patent-
pruefern, ist aber keine Grundlage fuer eine These, das
Patentsystem skaliere nicht ausreichend.
b) Die Anzahl der oeffentlich zugaenglichen Dokumente (im weitesten
Sinne), die den "Stand der Technik" bilden.
Soweit das "Dokumente" im klassischen Sinne sind, die sich
bibliographisch verwalten lassen, sehe ich auch hier kein
Skalierungsproblem.
> Ein Patentamt skaliert aber weder zum Web noch zur Softwareproduktion.
Die Anzahl individueller urhgeberrechtlich geschuetzter Software-
Werke waechst sicherlich im etliche Zehnerpotenzen gegenueber der
vor-Internet-Zeit (was genau das auch immer ist) an.
Aber auch bei Patenten auf computer-implementierte Erfindungen ist ja
nicht eine Software aus der riesigen Vielzahl von urheberrechtlichen
Schoepfungen der Schutzgegenstand, sondern eine abstrakte Idee (in
der Sprache der Urheberrechtler gesprochen; der Patentmensch wuerde
bestreiten, dass man "Ideen" patentieren kann - hier sind selbst
benachbarte Fachchinesisch-Idiome zueinander inkompatibel), eine
Funktionalitaet eben.
Wieviele durch Software ausgedrueckte Funktionalitaeten gibt es?
Ich weiss es nicht genau. Sicher scheint mir aber zu sein, dass die
Anzahl der Funktionalitaeten deutlich kleiner ist als die der
unterschiedlichen, im urheberrechtlichen Sinne individuellen
Programmschoepfungen. Man codiert in der Praxis eben doch bestimmte
Funktionalitaeten immer wieder und immer wieder neu, allem Gerede von
Code-Recycling etc. zum Trotz.
Wieviele dieser Funktionalitaeten sind davon der Oeffentlichkeit
zugaenglich?
Das ist schon nicht so einfach. Ist z.B. eine Funktionalitaet
innerhalb des Kernel-Codes von Windows XP Stand der Technik, wenn man
sie rein theoretisch mit dem Debugger ans Licht bringen koennte?
Alles noch unentschieden.
Das Problem ist m.E. weniger, dass der Stand der Technik bei computer-
implentierbaren Erfindungen steiler anwaechst als z.B. in der Chemie;
es ist vielmehr so, dass grosse Probleme entstehen, weil viel Wissen,
das im Prinzip der Offentlichkeit zugaenglich ist, "bibliothekarisch"
nicht erschlossen ist und daher extrem schwer auffindbar ist, wenn
man es braucht. Ich frage mich z.B. was wohl alles auf einer Standard-
DVD mit einem SuSE-Linux alles an Stand der Technik drauf ist, wenn
man die Sourcen retrivalmaessig irgenwie sinnvoll erschliessen
koennte.
In einem anderen Gebiet hat man schon eine Loesung gefunden: Bei den
Gentechnik-Fritzen ist es seit vielen Jahren Pflicht, zum Patent
angmeldete Biosequenzen in einem standardisierten Format
maschinenlesbar beim Patentamt abzuliefern, damit dort eine Datenbank
mit bekannten Biosequenzen aufgebaut werden kann.
Ob sowas auf den Bereich der Patent auf computer-implementierte
Erfindungen uebertragbar ist (XML-Codiertes UML?) ist mir selber noch
erheblich unklar.
Im uebrigen ist ja auch nicht zu uebersehen, dass jede offengelegte
Patentanmeldung zu einer computer-implementierten Erfindung ein
bibliographisch genau erfassbares Dokument zum Stand der Technik
generiert. Bei zahlreichen derartigen Patentanmeldungen wird sich
ueber die Jahre hinweg allmaehlich eine umfassende bibliographisch
erschlossene Dokumentation zum Stand der Technik im Bereich computer-
implementierbarer Erfindungen sozusagen von selbst aufbauen.
> D.h. der Fehler liegt im System. Es ist schlicht eine Illusion zu
> glauben, man könne den Stand der Technik bei Software überprüfen.
> Software ist wie Sprache in der Lage in kürzester Zeit eine
> unglaubliche Menge an Iterationen zu produzieren. Das ist die Stärke
> des ganzen.
Nicht jede dieser linguistischen "Iterationen" traegt zum Stand der
Technik bei. Da liegen wohl Groessenordnungen dazwischen. Ich glaube
eher, dass man durch Reformen im Bereich des Organisierens von Wissen
die Sache verbessern koennte. Aber daran hat ja die "Hau-weg-den-
Scheiss"-Fraktion der Kapitalismuskritiker verstaendlicherweise kein
Interesse; die wollen ja eher, dass gewisse Maengel in der
praktischen Implementation des Patentwesens moeglichst lange bestehen
bleiben, damit man die daraus entstehenden schroecklichen Geschichten
moeglichst medienwirksam der Oeffentlichkeit vorfuehren kann.
> Ich gebe Dir Recht, dass die Argumentation von Eurolinux sehr schlecht
> und juristisch -euphemistisch ausgedrückt- unsauber ist. Dennoch bin
> ich persönlich gegen die neue Richtlinie und unterstütze persönlich
> den Protest dagegen. Sie brauchen die Publicity um gehört zu werden.
> Wenn dann alternativen diskutiert werden, dann sollten wir vorbereitet
> sein, Alternativen aufzeigen zu können. Und wenn die ITAR 20 Jahre
> vorsehen, dann müssen die ITAR bezüglich Software eben geändert
> werden.
Nur ueber die Leiche der WTO, so wie ich die Lage einschaetze. Dann
muss man eben die WTO politisch auseinandersprengen, siehe kuerzlich
in Cancun, Mexico. Dann waeren wir aber wieder bei
--> man globalisierungskritik
Viel interessanter ist m.E. die zukuenftige Ausgestaltung des
spannungsbehafteten Nebeneinanders von trans-, meta- oder
antikapitalistischen "Intellectual Commons" und globalisiert
marktwirtschaftlich-kapitalistischem proprietaerem Wissen. Ich
glaube, dass wir in der naechsten Zeit beide Bereiche brauchen, damit
sie sich gegenseitig in Schach halten. ;-)
Derzeit entwickeln beide Bereiche Ambitionen, die jeweilige andere
Seite moeglichst voellig aus der Welt schaffen zu wollen. Stallman
moechte am liebsten eine Welt haben, in der kein Programmierer jemals
durch sein Programmieren in Konflikt mit einem proprietaeren
Patentanspruch geraten kann. Wenn man das finalistisch konsequent
durchdenkt, liefe das auf eine weitgehende Abschaffung des
Patentsystems hinaus (Stichwort u.a.: "computer-implementier_bare_
Erfindungen). Und umgekehrt kann man sich denken, was sich Billyboy
denkt, wenn er des Nachts an Stallman denkt ... sicher traeumt er
gelegentlich suess von einer Welt, die nie eine ge-GNUte Zeile
Software gesehen hat und auch nie sehen wird ...
Was m.E. ansteht, waere daher, eine Grenzlinie auf der Landkarte zu
ziehen, die das Land so aufteilt, dass beide Bereiche leidlich stabil
nebeneinanderher existieren koennen, um sich gegenseitig anstacheln
und beschimpfen zu koennen ...
Die Spannungslage zwischen MS-Windows und Linux ist ja kein
Wettbewerb _in_ einem kapitalistischen Markt. Es ist eigentlich
vielmehr eine Auseinandersetzung _zwischen_ einem proprietaer-
globalisiert-kapitalistischen Grundansatz und einem ich am anderen
Ufer des Flusses erstreckenden Landes, das auf einer vertraglich
regulierten Allmende-Wirtschaft aufbaut ...
Diese von mir angesprochene Grenzlinie zieht man aber nicht durch
Herumschrauben an den materiellrechtlichen Kriterien der
Schutzvorausetzungen (sowohl im Urheber- als auch im Patentrecht!),
sondern in beiden (!) Bereichen durch Adjustieren der Rechte aus dem
Schopefungsakt (Schrankenbestimmungen des Urheberrechtes) bzw. aus
dem Erfindungsakt (Schrankenbestimmungen des Patentrechtes). Deshalb
geht auch der Art. 6a in der JURI-Fassung in die richtige Richtung,
wenngleich mir die dortige Formulierung etwas reichlich offen und
unbestimmt vorkommt. Das frueher hier mal diskutierte
Quelltextprivileg geht in dieselbe Richtung.
Gruss,
Axel
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