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Re: PR-Artikel der Musikindustrie im SPIEGEL



Alvar Freude wrote:
In der aktuellen Ausgabe ist ein PR-Artikel der Musikindustrie, Seite 72
bis 79.
(...)
Aber vielleicht sollten die Redakteure und die Chefredaktion/Ressortleitung
ein paar freundliche Leserbriefe erhalten ...

Ich habe diesen vorhin abgeschickt:

Schönen Sonntag,
nulli


Sehr geehrte Damen und Herren,

mit Freude stellte ich beim Lesen der aktuellen Spiegelausgabe (Nr.
36/1.9.03) fest, dass sie einem so wichtigem Thema wie dem der
Unterhaltungsindustrie im "Informationszeitalter" volle acht Seiten
widmeten.
Um so enttäuschter war ich, als ich bemerkte, dass dieser Artikel nicht
nur sehr schlecht recherchiert ist, die Angelegenheit vollkommen
einseitig betrachtet wurde, sondern auch mit Fehlern gespickt ist.
Im folgenden möchte ich das Thema ein wenig aus meiner Sicht beleuchten
und mich mit einigen fatalen Aussagen des Artikel auseinandersetzen.
Ich hoffe ich kann so für ein wenig Klarheit und Neutralität in Ihrer
Redaktion sorgen, damit sie das Niveau ihrer ansonsten recht
ordentlichen Wochenzeitung nicht noch einmal so hinunterziehen. Ich
hoffe für die Zukunft, dass Sie immer wieder internetrelevante Themen
aufgreifen und sie kritisch auseinandernehmen. Dafür biete ich Ihnen
auch meine Mithilfe an.
Für Rückfragen, Antworten oder sonstige Bemerkungen stehe ich unter
dieser Mailadresse natürlich zur Verfügung.

In der Unterschrift sprechen Sie von "Raubkopieren". Diese weitgehegte
Unterstellung impliziert, dass der ("Raub")Kopierer Gewalt oder
Gewaltandrohungen angewendet hat um in den Besitz des Materials zu
kommen. Auf was für Fälle stützen Sie sich dabei? Jemanden des "Raubes"
zu verdächtigen ist natürlich auch viel aussagekräftiger, als des
Verdachts auf Verstoß gegen irgendeinen nebensächlichen
Urheberrechtsgesetzparagraphen.

Mir tut ihr Herr Renner leid. Der gestresste Manager kann schon nicht
mehr normal in Autos oder U-Bahnen steigen ohne ständig von diesem Übel
"Raubkopien" verfolgt zu werden. Hat ihm denn keiner gesagt, dass es
auch nach dem novellierten UrhG eine Privatkopieschranke gibt? (vgl. §
53 UrhG)
Jeder dieser "Verstöße", mal von der womöglich öffentlichen Aufführung
des Discjockeys abgesehen, ist daher in erster Linie durch diese
Schranke geschützt, ganz ohne "Raub"kopiererei.

Sie zeigen, dass immer weniger CDs verkauft werden, die Umsätze bei
Live-Konzerten allerdings steigen. Dafür machen Sie sog. Tauschbörsen
verantwortlich. Kam Ihnen in den Sinn, das schlichtweg deshalb weniger
CDs gekauft werden, weil die Menschen bei vergleichsweise ansteigenden
CD-Preisen immer weniger Geld in den Taschen besitzen? CDs werden
teurer und weniger Geld bei den Menschen heißt weniger CD-Käufer. Hinzu
kommt eine immer kurzlebigere Industrie, möchte man also "am Ball
bleiben", müsste man sich wöchentlich mit den neusten Hits, die man eh
schon aus Radio und Fernsehsendern kennt zudröhnen. Diese
Überschüttung an ähnlicher Musik schlägt irgendwann um in einen Boykott.

Nachdem eindrucksvoll einige der bekannten "Totschlagargumente" der
Verwertergesellschaften einen Platz im Artikel zukam, werfen Sie
"Dot-Communism", worunter Sie "Netz-Kommunismus" verstehen dem Leser an
den Kopf. Zu allem Überfluss unterstellen Sie auch noch den
"Raubkopierer", sie seien "neue Anarchisten", die ihre Vision als eben
diesen "Netz-Kommunismus" bezeichnen.
Dieser Begriff wird benutzt, um die anscheinend naturgegebene Angst der
Menschen vor dem Kommunismus zu bedienen. Sonst nur vom konservativen
und nationalem Milieu benutzt (vgl. z.B.
http://www.nationalreview.com/comment/comment-miller050603.asp),
verwendet ihn auch gern die Verwerterindustrie.

Mit dem Satz "Wer bei einer Internet-Suchmaschine wie Google den Begriff
"Download" eingibt, erhält 91 600 000 Fundstellen." finden Sie schon am
Ende der zweiten Seite des Artikels ein gutes Beispiel für
Kurzsichtigkeit und schlechtes Recherchieren.
Glauben Sie/Ihre Redakteure denn im ernst, dass sich dahinter wirklich
91 Millionen illegale "Downloads" verstecken? Ist Ihnen bewusst, dass
nahezu jede Firma, die Software anbietet, auch kostenlose "Downloads",
meist Testversionen/Shareware bereitstellt, dass Millionen von Downloads
*freier Software* (sowas sollte es gar nicht geben, dann die
Programmierer gehen sicher am Bettelstab) sich über Google finden
lassen, das "Download" ein allgemeingebräuchler Begriff für etwas, dass
man sich aus dem Internet "runterladen" kann ist, zum Beispiel
Textdokumente, ist? Im übrigen soll es auch viele Firmen geben, die ihre
Software ausschließlich auf gekaufte CD-Rohlinge spielen. Grad kleine
oder mittelständische Unternehmen machen dies teilweise.

Ihre Feststellung, dass die Thematik selbst von den Künstlern, den
Menschen, denen man durch "Raubkopieren" angeblich schadet, verschieden
betrachtet wird zeigt, dass es hier keine einheitliche Meinung geben
kann. Daher verwundert mich umso mehr, weshalb im restlichen Artikel
ausschließlich die Argumente millionenschwerer Verwertergesellschaften
angebracht wurden. (Mit Ausnahme der letzten zwei Seiten.)

Die Thematik des "Geistigen Eigentums" will ich in diesem Leserbrief
gar nicht aufgreifen. Plump in einen Absatz geworfen, lohnt sich diese
ohne Argumente geschriebene Phrase gewiss auch nicht, diskutiert zu werden.

Interessant anzuschauen sind auch die Graphiken, die dem unbedarftem
Leser mit Sicherheit die Augen öffnen werden: Die von der Gesellschaft
für Konsumforschung (GfK) durchgeführte Studie besagt, dass es 2002 in
Deutschland etwa 250 Mio mit Musik bespielte CD-Rohlinge gab.
Eine weitere Statistik besagt, dass insg. 486 Mio
Rohlinge im Jahre 2002 verkauft worden sind. (Im übrigen ändert die IFPI
die Zahlen verkaufter Musik-CDs sowieso mit der Windrichtung.) Wie
belegt die GfK die Zahlen und das über 50% mit Musik bespielt wurden?
Mit Rohlingen wird mehr gemacht, als Musik drauf zu speichern: Von
Sicherheitsbackups in Firmen oder daheim, als allgemeines
Speichermedium oder für Sicherheitskopien (und Privatkopien) von
Software oder eben Musik-CDs. Da sie es versäumt haben, eine
entsprechende Statistik für verkaufte Musik-CDs in Deutschland
abzudrucken, fand ich auf der Seite der IFPI (Internationale Vereinigung
der Phonographischen Industrie) dann auch die Zahl: 165,7 Mio verkaufte
Musik-CDs. Warum sollte nicht also jeweils eine Kopie für Auto und für
MP3-Player, was ja durchaus legal (Privatkopie) ist angefertigt worden
sein? Schon wäre die Zahl verkaufter Rohlinge erreicht. Hinzukommen
unzählige CDs für Datenbackups (Firmen/privat), eine Menge Rohlinge für
Sicherheitskopien von Software (es ist weit verbreitet, die Originale
sicherf aufzubewahren und nur mit Sicherheitskopien zu hantieren, um
nicht die Originale zu beschädigen) und natürlich auch die CD als
normales Speichermedium.
Da bleibt nicht mehr viel an "mit Musik bespielten Rohlingen" übrig.

Ein kleiner Fehler schlich sich auch in einen weiteren Satz:
"Es geht aber auch um Informationsfreiheit und Urheberrecht, um
Milliardengeschäfte und Popkultur." sollte eigentlich folgendermaßen heißen:
"Es geht aber auch um die Verwertergesellschaften, millionenschwere
Manager, die ihre Existenzberechtigung verlieren könnten, wenn Künstler
selbstständig werden."
In der Tat läuft es nicht darauf hinaus, die Künstler hungernd am
Straßenrand musizieren zu sehen, sondern darauf, dass
Verwertergesellschaften ihre Existenzberechtigung verlieren. Sie
profitieren von der Kreativität der Künstler, und diese kriegen pro
verkaufte CD sowieso kaum etwas.
Wenn man jemanden schreien hört, dann sind es Verwertergesellschaften
oder die Reichsten der Reichen, beide sollten aber nicht die sein, die
Ansprüche zu stellen oder den Fans ein schlechtes Gewissen einzureden haben.

Ihre Theorie, dass kleine Künstler am "Tauschgeschäft" als erste
Verlierer vom Platze gehen, liegen wohl Irrtümer zugrunde. Welche kleine
Band/Nachwuchsband verkauft schon am Anfang 60.000 Platten? Kleine Bands
gewinnen nicht dadurch an Fans, weil ihre Platten im gesamten Land
verstreut sind, sondern dass ihre Fangemeinde kontinuierlich wächst, und
zwar vom Heimatort aus. Durch Konzerte und Präsenz werden zumeist junge
Fans auf sie aufmerksam. Dann kommen die ersten Fanartikel, zu einer
Zeit, in der es meistens noch nichtmal eine CD gibt, aber durchaus
einige aufgenommene Lieder. Diese können im Internet publiziert oder in
Tauschbörsen gestreut werden und die Fangemeinde vergrößert sich allein
dadurch. Sollte es dann zu angemessenen Preisen eine CD geben, so wird
diese gekauft, vorausgesetzt sie enthält keine repressiven
Kpierschutztechniken.
Es ist für die wenigsten Künstler möglich, sofort einen Plattenvertrag
zu erhalten. Letztendlich kann das aber durch eine gewisse Fangemeinde
(auch über die Stadtgrenze hinaus) erleichtert werden, dabei hilft das
Internet ungemein.

Das Interview mit Herrn Müller-Westernhagen stellt eine halbwegs
gelungene Ausnahme in Ihrem Artikel da. Mit Sicherheit kann man sich
auch über einige seiner Aussagen streiten, doch ist seine Haltung im
Gesamtbild durchaus nachvollziehbar und für viele sicher auch
akzeptierbar, ganz im Gegenteil zum Gesamtbild Ihres Artikels, der
meiner Ansicht nach nicht mehr als eine Kopie der
IFPI-/RIAA-Auffassungen darstellt. Sie werfen zwar teilweise
halbkritische Fragen in die Runde, gehen darauf aber keineswegs ein, so
als ob sie sie für völlig belanglos erachten würden.

Ein weiterer Punkt, der in Artikeln dieser Art immer wieder falsch
dargestellt wird ist der das geschätzten Schadens, der durch das
Tauschen entsteht. Woran wird dieser gemessen? Beim Beispiel Film daran,
dass jeder potenzielle Filmbesitzer nicht ins Kino geht, sich nicht die
DVD kauft und auch nicht die dazugehörige Filmmusik? Oder alles drei
zusammen? Wieso sollte ein potenzieller Kunde nicht das Recht haben,
sich über den Film oder anders gesagt über das Produkt zu informieren,
was er letztendlich kaufen will? Oder gibt es neuerdings an den
Kinokassen das Rückgaberecht, wenn ein Kunde unzufrieden ist oder
Preisminderung bei Qualitätsmängeln?
Wenn die Industrie gegenüber Tauschern wie mit Dieben umgehen will, dann
soll das Spielchen auch bitte bis zum Ende gespielt werden und das, was
in der "Offlinewelt" schon lang gang und gäbe ist auch auf Konsumgüter
wie Film und Musik erweitern.

Die letzten zwei Seiten stellen eine klare Qualitätssteigerung dar und
setzen sich zumindestens teilweise auch mit den Argumenten aus der
Nutzergemeinde auseinander.
Ich vermute, dass diese Seiten von einem der vier Autoren geschrieben
wurde, der in seiner Recherche weiter als bis zu ifpi.de kam.

Mit vielen freundlichen Grüßen,
Matthias Hannich, Görlitz

P.S.:
Mit einer Veröffentlichung als Leserbrief bin ich einverstanden (wird
sich wenn, dann ja auch mit Sicherheit nur in Auszügen anbieten):
...allgemeines blabla...

--
Freundliche Grüße,          ###  http://www.stop1984.com
Matthias Hannich            ###  nulli@xxxxxxxxxxxx
                            ###  KeyID: 407A2F69
Fingerprint: 600D 7E07 105C F674 0C4B  12C2 4DE4 A8DF 407A 2F69


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