FYI: Tagesschau-Interview: Warnung vor digitalem Imperialismus
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09.12.2003
Interview: Warnung vor digitalem Imperialismus
Das US-amerikanische Urheberrecht bedroht die Freiheit im Internet mehr als die
Zensur der chinesischen Regierung, sagt Andy Müller-Maguhn vom Chaos Computer
Club im Gespräch mit tagesschau.de. Der in den USA ansässigen ICANN - Herrin
über Top-Level-Domains - deren Direktoriumsmitglied er ist, bescheinigt er,
eindeutig im Interesse der USA zu handeln. Und er spricht klare Worte über die
Internet-Überwachung durch die US-Geheimdienste und seine Erwartungen an den
UN-Informationsgipfel.
tagesschau.de: Was erwarten Sie vom ersten UN-Informationsgipfel?
Müller-Maguhn: Alles, was auf dem Gipfel passiert, ist vorher abgestimmt worden,
damit ja keiner eine gute Idee äußert und jemand anders sie auch noch
unterstützt. Wenn man das Ganze als Forum zum Meinungsaustausch betrachtet, ist
es sicherlich gut. Ich habe aber keine Erwartungen, dass etwas beschlossen
wird, was die Dinge verbessert.
tagesschau.de: Wie weit ist Ihrer Ansicht nach die Meinungsfreiheit im Internet
gediehen, zum Beispiel in China?
Müller-Maguhn: Die chinesische Regierung versucht, Informationen, die ihr nicht
gefallen zu unterdrücken. In den USA geht die Möglichkeit, seine Meinung im
Netz zu äußern zwar sehr weit, allerdings ist unter dem Deckmantel der
Terrorismusbekämpfung die Transparenz im Internet dramatisch eingeschränkt
worden.
Außerdem ist der neue amerikanische Urheberrecht-Schutz alles andere als
liberal. Die Verfügbarkeit von Daten wird dadurch eingeschränkt, dass genau
geregelt ist, wer auf welche Daten zugreifen kann und wer nicht. Das ist eine
viel größere Bedrohung für das Internet als nationalen Empfindlichkeiten
politischer Natur, wie zum Beispiel in China.
tagesschau.de: Die in den USA ansässige ICANN (Internet Corporation for Assigned
Names and Numbers) entscheidet zum Beispiel darüber, welches Land eine eigene
Länder-Domain haben darf und welches nicht. Wird dadurch die Freiheit im Netz
nicht noch weiter beschränkt?
Müller-Maguhn: ICANN bemüht sich um eine integrative Politik. Das kann aber
nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich letztlich um eine kalifornische
Firma handelt und eben nicht um eine Organisation der Vereinten Nationen. Die
Existenz und die Handlungsfreiheit von ICANN ist ganz klar eingegrenzt durch
die Empfindlichkeiten der jeweiligen US-Regierung. Man kaschiert die
tatsächlichen Machtverhältnisse hinter einer demokratischen Fassade.
tagesschau.de: Wenn die US-Politik so großen Einfluss hat, warum hat Tibet noch
keine eigene Top-Level-Domain?
Müller-Maguhn: Bei Tibet geht es auch um das Verhältnis der USA zu China, und
die wirtschaftlichen Interessen der Amerikaner in China sind erheblich.
Industriestaaten wollen Absatzmärkte erschließen
tagesschau.de: Stichwort: Digital Divide. Die Entwicklungsländer fordern die
Einrichtung eines Fonds für Informationstechnologien, in den die
Industrieländer einzahlen sollen. Wie beurteilen Sie die Initiative?
Müller-Maguhn: Ich finde das begrüßenswert. Auf der anderen Seite muss man sehr
vorsichtig sein, weil viele westliche Unternehmen unter dem Vorwand, die
digitale Kluft beseitigen zu wollen, de facto Maßnahmen durchführen, die man
als digitalen Imperialismus bezeichnen kann. Die Anwendung des amerikanischen
Markenrechts oder die Verwaltung der Domains durch ICANN bedeuten, dass
westliche, bzw. US-amerikanische Standards durchgesetzt werden. De facto werden
die Entwicklungsländer an das von Amerikanern und westlichen Unternehmen
dominierte Wirtschaftsgeschehen im Netz angeschlossen. Absatzmärkte erschließen
- so kann man das kurz und treffend bezeichnen.
tagesschau.de: Wie sehr ist die Überwachung des Internet durch die Geheimdienste
seit dem 11. September 2001 gestiegen?
Müller-Maguhn: Das Budget der NSA (National Security Agency) ist im Zuge der
Terrorismusbekämpfung enorm gewachsen. Man muss sich in Zukunft um den Schutz
der Privatsphäre kümmern. Ich denke, daraus wird ein ganzer Wirtschaftszweig
entstehen. Man kann heute bereits davon ausgehen, dass bei der Benutzung von
öffentlichen Leitungen mindestens zwei Dienste mithören.
Das Gespräch führte Sabine Klein, tagesschau.de
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